2006/03/30

Kalkutta (30.3.2006)


PICT3845
Originally uploaded by schlagwein.


Oh Kalkutta! Als Armenhaus Indiens in den Reiseführern und bei mehreren modernen Schriftstellern des letzten Jahrhunderts als „ein einziger, hoffnungsloser Haufen Scheiße“ beschrieben, zunächst nicht unbedingt der Ort, an dem man viel Zeit seiner Reise verbringen möchte… Das dachten wir uns jedenfalls und waren höchst erstaunt, immer wieder auf Reisende zu treffen, die sogar mehrere Wochen dort verbrachten und die Stadt angeblich liebten. Die Menschen seien so nett und alles sei überhaupt so wunderbar! Können sich denn so viele Menschen getäuscht haben? Oder hatten wir es lediglich mit durchgeknallten Drogenabhängigen zu tun, die im Nebel ihres Wahnsinns die Realität nicht mehr wahrzunehmen vermochten!???
Kalkutta ist auf den ersten Blick, in unserem Falle der Landeanflug von den Andamanen, überhaupt nicht schockierend. Viel Grün, Prachtstrassen und natürlich der obligatorische verseuchte Fluss, der uns nach all den Wochen Indien nicht mehr erschrecken kann.
Eine Millionenstadt, von denen laut Reiseführer zwei Drittel in den Slums wohnen.
Fuhr man in Bombay geradewegs aus den Slums heraus um in die Innenstadt zu gelangen, so waren hier in Kalkutta zunächst nur weit angelegte Strassen und Grüngürtel zu sehen. Fast war ich schon ein wenig enttäuscht, als unser Taxi dann endlich mit einer scharfen Wende in den puren Orient abtauchte. Da waren sie. Schreiende Rikschafahrer auf ihren klapprigen Rädern (kaum Motorrikscha, sondern Fahrrad- oder Laufrikscha), schreiende Straßenverkäufer, schreiende Mütter, permanentes Hupen von allen Seiten, breite Lächeln aller Passanten, die neugierig versuchten, schnell noch einen Blick auf die blonde Besatzung des Taxis zu erhaschen, trotz all des Lärms immer wieder Schlafende an den Straßenrändern, die sich vor der scharfen Mittagshitze zu retten versuchten – das ganze Programm!
Die Bengalen sind berühmt für ihr Temperament und ihre Hitzköpfigkeit. Zuvor hatten wir schon öfter Bengalis mit den Fäusten aufeinander losgehen und sich anschreien gesehen, was für die Inder im Allgemeinen als sehr unhöflich gilt. Aber in den Strassen Kalkuttas mischt sich dieses Temperament mit einem gewissen Humor unter das Volk. Hier wird gehandelt, geschrieen, gelacht und …geflirtet! Schmierige Bemerkungen an jeder Straßenecke war ich nach zwei Monaten Indien ja nun schon gewöhnt. Aber die Männerwelt Kalkuttas sieht einen Flirt ähnlich wie die Italiener in Europa wohl eher als eine Art Volkssport an und so wurde ich alle fünf Meter mit netten (und gar nicht fiesen) Kommentaren überhäuft. Wo bitte haben sie denn das gelernt (Nein, natürlich trug ich keinen Minirock!)!?
Da wir nur den einen Tag in Kalkutta verbrachten, wäre es sehr anmaßend, mich näher über die sozialen und politischen Verhältnisse der Stadt auszulassen. Wir brauchten fast zwei Stunden, um unser Gepäck zum Hauptbahnhof zu bringen, von dem abends bereits der Zug nach Varanasi weitergehen sollte. Und erst im Norden der Stadt, anschließend an das Gebiet des Hauptbahnhofes sollten die schrecklichen Slums liegen, die uns somit erspart blieben. Aber das, was wir in diesem einen Tag von Kalkutta gesehen haben, war nicht annähernd so schlimm wie erwartet. Im Gegenteil, auch ich hätte mir tatsächlich vorstellen können, noch ein bisschen länger dort zu bleiben.
Bevor wir uns jedoch auf die Reise nach Varanasi machten, hatten wir noch eine wichtige Mission: Matthias und Kari, zwei Norweger, die wir bereits am Flughafen in Port Blair kennengelernt hatten und die ebenfalls nach Varanasi wollten, hatten sich in den Kopf gesetzt, einen Pizza Hut aufzutreiben, um ihren lang geschürten Pizza-Heisshunger (sie waren über vier Wochen auf den Inseln, auf denen so gut wie keine Infrastruktur bestand) zu befriedigen. In Null-Komma-Nichts hatten sie mich infiziert und alle zusammen saßen wir bald darauf in einer Rikscha auf der Suche nach der heiligen Pizza.
Gut gesättigt befanden wir uns einige Stunden später im Zug und schliefen der Heiligen Stadt entgegen.

Hannah